Interview mit Padre Markus Degen (2006):
Sie sind schon bald 40 Jahre im Altiplano von Peru tätig. Wie ist des dazu gekommen?
"1957 hat Papst Pius XII in der Enzyklika Fidei Donum die europäischen Bischöfe aufgefordert, angesichts des grossen Priestermangels in der dritten Welt, ihren dortigen Kollegen zu helfen. Auch Franziskus von Streng, damaliger Bischof von Basel, ist diesem Aufruf gefolgt. Er hat mir erlaubt, nach meinem Vikariat in Kriens nach Peru zu gehen, was ich gerne tat. So bin ich Rahmen des Projekts Fidei Donum (Geschenk des Glaubens) vom Bistum Basel ans Bistum Puno "ausgeliehen" worden, bis heute."
Denken Sie mit 68 noch nicht daran, hier aufzuhören?
"Von Anfang an war für mich klar, dass ich hier solange bleiben und mich einsetzten will, bis es nicht mehr geht."
Sie widmen sich der seelsorgerischen Tätigkeit, haben aber auch viele weltliche Projekt in Angriff genommen.
"Der Hintergrund für solche Projekte besteht in meiner Auffassung, was Evangelisierung bedeutet. In den letzten 40 Jahren gab es eine hochinteressante Entwicklung in der Kirche der südlichen Anden, von Ayacucho und Cusco bis nach Bolivien. Wir haben uns zusammengeschlossen und ein Pastoralinstitut gegründet, wo wir die seelsorgerischen Linien festgelegt haben, stark beeinflusst von der Theologie der Befreiung, die ihren Ausgang vom 2. Vatikanischen Konzil nahm und speziell von den südamerikanischen Bischofskonferenzen, besonders jener von Medellin (1968) in Kolumbien gepraegt worden ist. Als eine Hauptaufgabe wurde die Lösung des Armutsproblems ins Auge gefasst. Im Ausgang davon entstand eine integrale Erlösungs- und Befreiungstheologie. Wir gehen auf die konkreten Situation der Menschen ein, die hier in Randständigkeit und materieller Armut leben und nie an der Entwicklung ihres Landes aktiv teilnehmen konnten, sondern über Jahrhunderte von Interessengruppen unterdrückt, manipuliert und ausgebeutet worden sind. Wir stehen in der Nachfolge und Praxis Jesu und gehen auf den ganzen Menschen ein, auf seine materiellen und spirituellen Bedürfnisse. Genau wie er es in seiner Zeit getan hat, als er sich auch mit den Maechtigen auseinandersetzte. Ohne diesen befreiungstheologischen Ansatz ist unsere praktische Arbeit nicht zu verstehen und würde sie auch keinen Sinn machen. Die praktische Arbeit darf aber keineswegs im Assistentialismus und Paternalimus stecken bleiben. Sondern es geht darum, das Uebel an der Wurzel zu bekaempfen und eine gerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu schaffen."
Weitherum bekannt geworden ist ihre Forellenzucht am Arapasee.
"Schon mein Vorgänger, der leider vor bald 20 Jahren tödlich verunglückte Padre Konrad Kretz, hat mit einem Fischprojekt angefangen. Mit der Übernahme dieser verwaisten Pfarrei vor bald 20 Jahren habe ich dann den Grundstein zum Aufbau der heutigen Fabrik gelegt. Hier haben wir Pionierarbeit geleistet. Viele der in Arapa ausgebildeten Leute haben mittlerweile eigene Forellenzuchten aufgebaut. Sie sind heute zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor am Titicacasee geworden. Man darf zu Recht von einer nachhaltigen Entwicklung reden. Die Leute haben gelernt, als selbständige Unternehmer zu wirtschaften. Ich selber bin mit meiner Belegschaft einen Schritt weiter gegangen, indem wir eine Qualitätssteigerung mit der Zertifizierung unserer Bio-Forelle erreicht haben. Unser nächstes Ziel: externe Märkte erschliessen."
Sie haben auch andere Projekte aufgebaut: Alpacazucht, Strick- und Webateliers etc. Wie wurden und werden diese Projekte finanziert?
"Anfänglich sind wir immer auf Spenden angewiesen. Z. B. von kirchlichen Hilfswerken und Kirchgemeinden, eine wichtige Finanzquelle ist die Konrad Kretz Stiftung, das Kirchenopfer und der "Windreedlibatze" aus Oberwil und viele Spenden eines grossen Freundeskreises. Ziel aber bleibt, dass die Projekte nach einer Aufbauphase selbsttragend oder für die Mitarbeiter gar gewinnbringend werden, damit sie selber weiter investieren können."
Kritische Stimmen behaupten, Spenden für Entwicklungshilfe werden oft zweckentfremdet.
"Auch eine Einmannpfarrei kann nicht ohne einen minimalen administrativen Aufwand zugunsten der konkreten Projektarbeit funktionieren, aber der ist hier wirklich verschwindend klein und ich lege darüber offen Rechenschaft ab."
Seit etwa drei Jahren haben Sie mit einer neuen Art von Projektarbeit begonnen, die sich von der "klassischen" Entwicklungshilfe deutlich unterscheidet.
"Früher, auch via staatliche Kanäle, sind enorme Summen und ausgezeichnetes Know How in die Entwicklungshilfe geflossen. Trotzdem sind die allermeisten Projekte versandet, nachdem die externen Geldquellen versiegten und die Entwicklungshelfer sich zurückgezogen haben. Der Grund: die Hilfe wurde der Bevölkerung von aussen als etwas Fremdes aufoktroiert. Man hat nicht zuerst gefragt, was sind eure Bedürfnise, Wünsche, Ziele. Man hat aus alter europäischer Überlegenheit heraus geglaubt, es selber besser zu wissen. Die neue Strategie geht von unserem christlichen pastoralen Ansatz aus. Im Zentrum steht der Mensch, wie er da lebt mit seinen Nöten und Sorgen, aber auch mit seinem Reichtum an üeberliefertem Wissen, seinen Träumen und Hoffnungen. Mit einem qualifizierten Team von jungen Studenten/innen aus den comunidades campesinas -bestehend aus Anthropologen, Soziologen, Agronomen, Juristinnen etc - haben wir im Rahmen von Workshops an denen dieganze Dorfbevölkerung teilnimmt, strategische Pläne erarbeitet."
Dann bleibt es also wieder bei blossen Plänen?
"Im Gegenteil. Unser gemeinsames Ziel ist die Umsetzung in der Praxis, entsprechend unserem theologischen Ansatz. Aber die Bevöllkerung soll die Ziele und Wege dahin von Anfang selber bestimmen. Nur so können und wollen sie sich damit identifizieren, und dies ist eine zentrale Voraussetzung des Erfolges. Wir sind bereits daran, operative Pläne umzusetzen."
Ein Beispiel?
"Bauern haben bereits gelernt, den ganze Kartoffelernten verheerenden Gorgojo, den nur hier vorkommenden Kartoffelkäfer, dessen Larfen die Kartoffel selber fressen, mit biologischen Methoden effizient zu bekämpfen. Andere sind dran, ihre Bewaesserungssystem zu verbessern. Andere die Fischzucht."
Bleibt's bei diesen ökonomischen Fortschritten?
"Wir haben nicht nur die materielle Seite der Menschen im Auge. Aus christlicher Sicht geht es uns auch um ihre menschliche Würde, damit sie ihre Rechte und Pflichten wahrnehmen, als mündige politische Christen im Rahmen ihrer dörflichen Gemeinschaft zu handeln wagen. Nach Jahrhunderten der Unterdrückung ist dies keine Selbstverständlichkeit."
Sind bereits Erfolge in politischer Hinsicht sichtbar?
"Ganz deutlich. Z. B. Im Kampf gegen die Korruption. Man muss vorweg wissen, dass diese hierzulande eine mächtige Rolle spielt. Politiker, Beamte, selbst Richter sind käuflich und die Bevölkerung wird ihrerseits von diesen "Vorbildern" verseucht. Auch im Wirtschaftsleben ist Korruption allgegenwärtig. Es ist ein Faktum, dass wer an die Macht kommt, diese sofort für den eigenen Profit ausnützt. Hier im Distrikt Arapa mit seinen 54 comunidades campesinas hat die Bevölkerung, unter Führung junger Universitätsstudenten, nun aber mit Erfolg die korrupte Geschäftsführung ihres eigenmächtigen Alcaldes, Bürgermeisters, der für hiesige Verhältnisse hohe Summen unterschlagen hat, eingeklagt. Sie ist es auch leid, für dumm verkauft zu werden. Bis die Aufsichtsinstanzen aber handelten haben die Leute Tag und Nacht - oft bei Minustemperaturen - während eines ganzen Monats das Rathaus "belagert" und mit mehreren tausend Teilnehmern einen Protestmarsch in der Hauptstadt Puno durchgeführt und in mehreren Volksversammlungen Loesungen entwickelt. Denn hier passiert nichts, wenn nicht Druck ausgeübt wird. Es bleibt noch ein weiter Weg bis zur vollen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Aber wir haben mit unserer demokratischen Basisarbeit erste wichtige Marksteine gesetzt. Das Volk beginnt zu erwachen."
Ist Arapa ein Einzelfall?
"Nein. Ein Erwachen ist hier im Departement Puno, einiges grösser als die Schweiz, ganz allgemein feststellbar. Bereits hat sich via Medien der Fall Arapa weitherum herumgesprochen. Ich glaube, es ist eine Entwicklung von unten her im Gange, ohne dass es populistischer, autoritärer Führungsfiguren bedarf. Ein echter partizipativer Prozess hat seinen Anfgang genommen, von der Provinz her, vielleicht wie im 19. Jahrhundert bei uns, von der Landschaft, vom Baselbiet her. Dies entspricht auch einem zutiefst menschlichen Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit."
Sie sind also nicht nur Pfarrer und Entwicklungshelfer, sie mischen sich auch in die Politik ein, mit Ihrem Schweizer, Baselbieter Naturell?
"Ja, seit je war ich's gewohnt selber mitzureden und mitzubestimmen. Das fehlt hier im Vok vollstaendig. Nur alle fünf Jahre gibt's hier Wahlen. Danach hat das Volks nichts mehr zu sagen. Ich setze mich dafür ein, dass das Volk in allen Bereichen mitbestimmt. In meiner Arbeit ist es eine Selbstverständlichkeit, die Leute zu fragen, was meint ihr, was sagt ihr dazu, auch in kirchlichen Belangen."
Sie setzen sich auch für mehr Gemeindeautonomie, einen föderalen Staatsaufbau ein. Aber sollten Sie als guter Schweizer, der Sie doch geblieben sind, sich hier nicht "neutral" verhalten?
"Neutrales Verhalten heisst, mit einer Situation, so wie sie gerade ist, einverstandern sein. Das ist die schlechteste Einstellung. Als Pastor, Hirte, muss ich Partei ergreifen für die, die an den Rand gedrückt und übergangen werden. Da spielen auch die Themen der Menschenrechte, der Würde und der Freiheit des Menschen mit hinein. Ich kann diese Werte nicht nur predigen, sondern muss sie auch in die Tat umsetzen. Da kann ich nicht nur zuschauen."
Aber sind mit Ihrem Engagement Konflikte nicht schon vorprogrammiert?
"Ja. Mit den Gruppen der Mächtigen, den poderosos. Das spielt sich hier noch sehr handgreiflich ab. Es ist nicht das erste Mal, dass mir gegenüber nicht nur massivste Drohungen ausgesprochen wurden, sondern auch Versuche erfolgten, sie in die Tat umzusetzen. Das ist die Methode, wie Interessengruppen das Volk und die, die sich für es einsetzen, unter Druck setzen. Da ist ein Clinch unvermeidlich. Aber das ist Jesus auch nicht anders ergangen. Man riskiert hier das Leben, wenn man "für´s Rächt ystoht". "
Nochmals zur Neutralität. Als Pfarrer müssen sie ja auch über den Parteien und Interessengruppen stehen und versöhnend wirken, gerade in Konfliktsituationen.
"Wenn ich sage, dass ich Stellung nehmen muss und will, dann heisst dies nicht, zugunsten von Personen und Gruppen. Sondern es geht darum, dass die Werte wie Gerechtigkeit, miteinander auskommen, Gemeinschaftsbildung etc. zum Zuge kommen. Dass verletzte Menschrechte wieder hergestellt werden. Dieses konsequente Verhalten nährt das Vertrauen des Volks in eine Person als über den Zwistigkeiten stehender versöhnender Vermittler. Aber keine Versöhnung ohne Gerechtigkeit. Heute wissen die Mächtigen, dass sie für ihr Verhalten grad stehen müssen. Meine im Dienste der Versöhnung stehende Überparteilichkeit lässt es nicht zu, dass die korrupten Kräfte einen Freibrief bekommen für ihr ausbeuterisches, menschenverächtliches Verhalten oder dass sie sich zu sagen erdreisten, die jetzige "Ordnung" sei gottgewollt oder gar eine zu erduldende Strafe Gottes. Frieden gündet auf der Gerechtigkeit und wo Schaden gegenüber der Bevölkerung verursacht wurde, da muss dieser zuerst wieder gutgemacht werden. Versöhnung heisst nicht, faule Kompromisse schliessen. Auch hier bedarf es der konkreten Tat, diesmal derer, die gegenüber dem Volk Schaden angerichtet hat. Es ist leicht zu sehen, wofür mein Herz schlägt."